Keynote

Bildungs(un)gerechtigkeit am Beispiel des Umgangs mit migrationsgesellschaftlicher Mehrsprachigkeit in deutschen Schulen
Prof.‘ Argyro Panagiotopoulou

Abstract

Mehrsprachigkeit gilt in Deutschland als Bildungsideal und soll bei (formal) einsprachigen Kindern bereits in der frühpädagogischen Praxis angebahnt und spätestens in der Schule durch Fremdsprachenunterricht gefördert werden. Alle Schüler*innen sollen am Ende ihrer Schulkarriere möglichst mehrere, (ausschließlich) prestigestarke Sprachen beherrschen.

Parallel dazu wird im Kontext von Bildungsinstitutionen die migrationsgesellschaftliche Mehrsprachigkeit sowie die gelebte Mehr- und Quersprachigkeit der Schüler*innen nicht als Normalität anerkannt. Spätestens beim Übergang in die Schule werden Kinder aus mehrsprachigen Familien mit einer fiktiven Monolingualität konfrontiert und in eine institutionelle Einsprachigkeit eingeführt. Die von ihnen im familialen und außerschulischen Alltag verwendeten Sprachen werden kaum mit ihrer Gegenwart und Zukunft, sondern höchstens mit der Herkunft ihrer Eltern in Verbindung gebracht und als ‚Herkunftssprachen‘  marginalisiert. Die mitgebrachten Bildungssprachen (Schriftsprachen) der neuzugewanderten Schüler*innen werden sogar als Hindernis für einen erfolgreichen Deutscherwerb angesehen, ihr Sprachenrepertoire wird somit delegitimiert und aus dem Unterrichtsgeschehen verbannt. Denn Schüler*innen aus (neu) zugewanderten Familien wird i.d.R. pauschal unterstellt, dass der Erwerb der ‚deutschen Bildungssprache‘ aufgrund ihrer mehrsprachigen Sozialisation erschwert wird. Dadurch wird aber die (Re-)Produktion von Bildungsungleichheiten in der Migrationsgesellschaft als individuelles und familiales Problem konstruiert, während die ambivalente Sprachenpolitik der deutschen Schule sowie die herkömmliche, monolingual ausgerichtete Sprachdidaktik kaum in Frage gestellt werden.  

Im Vortrag sollen die hier beschriebenen Paradoxien anhand von ethnographischen Beobachtungen aus dem Unterrichtsalltag, u.a. in Anfangsklassen von Grundschulen sowie in Vorbereitungsklassen für neuzugewanderte oder geflüchtete Schüler*innen der Sekundarstufe diskutiert werden.

Über Prof.‘ Argyro Panagiotopoulou

Prof.‘ Panagiotopoulou

Prof.‘ Argyro Panagiotopoulou arbeitet als Erziehungswissenschaftlerin und qualitative Bildungsforscherin seit vielen Jahren zu Bildungsbe(nach)teiligung im Kontext von Kindertageseinrichtungen und Schulen in inklusiv vs. exklusiv ausgerichteten Bildungssystemen europäischer und außereuropäischer Migrationsgesellschaften. 2003-2005 hat sie eine Professur für Elementar- und Primarstufe an der Goethe-Universität Frankfurt vertreten. 2005-2010 war sie Professorin für Grundschulpädagogik mit dem Schwerpunkt Bildungsforschung und Sprachbildung an der Universität Koblenz-Landau. Seit 2010 ist sie Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Bildung und Entwicklung in früher Kindheit, seit 2013 Sprecherin im Kompetenzfeld SINTER „Soziale Ungleichheiten und Interkulturelle Bildung“ im Zukunftskonzept der Exzellenzinitiative (www.sinter.uni-koeln.de) an der Universität zu Köln und seit 2016 (Gründungs-)Mitglied der „AG Inklusionsforschung“ in der DGfE. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen: Bildung und Heterogenität in der Kindheit; Migration und Inklusion/Exklusion; Umgang mit migrationsbedingter Mehrsprachigkeit in Familien, Kindertagesstätten und Schulen; Ethnographische Bildungsforschung.